Funktionale Analyse

Funktionale Analyse ist eine neuartige Methode der körperorientierten Psychotherapie, die von dem in Südfrankreich lebenden Amerikaner Will Davis unter Mitwirkung seiner Ehefrau Lilly Davis entwickelt wurde. Die Funktionale Anaylse ist meines Erachtens nicht einfach ein weiteres Verfahren oder eine weitere Technik, die sich zu den unzähligen in den letzten Jahrzehnten entwickelten psychotherapeutischen Methoden hinzugesellt. Die Methode von Will Davis markiert in wichtigen Grundprinzipien einen Neuanfang und ein Umdenken in der körperorientierten Psychotherapie.

Zentrale Grundbegriffe hierbei sind:

Die von Wilhelm Reich, seinen Schülern und seinen geistigen Nachfahren entwickelten Verfahren der körperorientierten Psychotherapie waren in hohem Maß von der Idee geprägt, dass das wesentliche heilsame Grundprinzip in der Psychotherapie auf dem so genannten „Outstroke“ beruht. Der Therapeut begleitet den Klienten dabei, in der Kindheit erlebte und nie wirklich zum Ausdruck gebrachte negativ besetzte Gefühle wie Trauer, Wut oder Angst aufzusuchen. Oft sind diese Gefühle im Erwachsenalter verdrängt, d.h. in das Unbewusste verschoben. Dort wirken sie aber hochaktiv als „Störsender“, die den freien Energiefluss im Körper und in der Psyche blockieren. Dadurch tragen sie zur Ausbildung von körperlichen Symptomen und Neurosen bei und verhindern die Ausbildung eines gesunden Charakters und eines ausgewogenen Körperbaus. In der Outstroke-Arbeit wird der Patient angeleitet, sich psychisch oder körperlich aufzuladen, z.B. durch forcierte Atmung, um dann diese tiefen, bisher unbewussten Gefühle kraftvoll zum Ausdruck zu bringen und damit die in der Kindheit eingefrorene Spannung zu lösen. Dadurch wird der freie Fluss der Energie im Körper wieder möglich und der Organismus kann heilen.

Ein In-sich-Gehen, ein Still-werden, eine bewusste geistige Einwärtsbewegung, die selbstverständliches Grundprinzip aller uralten, asiatischen  Weisheitslehren darstellt, wie z.B dem Zen, wurde in der körperorientierten Psychotherapie nicht als heilsam wahrgenommen.

Will Davis hat entdeckt, dass eine bewusste, vom Therapeuten begleitete, tief nach innen gerichtete geistige Bewegung oftmals große Heilkraft und wirkliche Transformation des Charakters bewirken kann. Zu seiner eigenen Überraschung hat Davis durch jahrelange Arbeit mit dieser geistigen Einwärtsbewegung weiter entdeckt, dass wir bei dieser Einwärtsbewegung in unser tiefstes Inneres nicht nur verdrängte Konflikte mit unseren Eltern und schmerzhafte kindliche Gefühle wie Trauer, Angst und Wut wieder finden. Sondern dass jeder Mensch, völlig unabhängig davon, wie gestört seine kindliche Entwicklung verlaufen ist, unter all diesen Konflikten, Problemen und Traumata einen Ort in sich finden kann, an dem er bereits geheilt ist. Einen Ort, an dem jeder Mensch weiß, was Heimat, was Energie und was Liebe ist, auch wenn er diese als Kind nie real erfahren hat. Einen Ort, an dem jeder Mensch bereits geheilt und geliebt ist. Will Davis nennt diesen Ort „Endo-Self“. Auch das „Endo-Self“ ist mit anderem Namen in vielen spirituellen Philosophien, u.a. den asiatischen Meditationslehren, tief verankert, wurde aber bisher in der westlichen Psychotherapie nicht als heilsames Prinzip genutzt.

Ein ausführliches Interview mit Will Davis zur Arbeit mit Instroke und Endo-Self finden Sie auf YoTube:

Unser Charakter bildet sich im Wesentlichen in der Kindheit als Reaktion auf unsere familiäre Umgebung aus. Besonders bedeutsam ist hier die Beziehung, die unsere Mutter und unser Vater uns anbieten. Wenn wichtige Grundbedürfnisse von unseren Bezugspersonen nicht befriedigt werden, bilden sich dabei auch neurotische Persönlichkeitsanteile aus. Diese neurotischen Anteile haben in der Kindheit die wichtige positive Funktion, unserer Seele auch unter schwierigen Bedingungen ein möglichst weitreichendes Überleben zu ermöglichen. Allerdings bleibt uns dieser Charakter, einmal ausgebildet, bis ins Erwachsenenalter erhalten und kann uns dann bei der freien Entfaltung unserer Lebensmöglichkeiten behindern.

In der funktionalen Analyse versuchen wir gemeinsam mit unseren Klienten, die „Funktion“ als zentrales Kriterium für einen gesunden Charakter zu erforschen, zu analysieren. Welche Funktion ist gemeint?

Ein gesunder Charakter ermöglicht uns, permanent ungehindert und selbstbestimmt zwischen Exstroke und Instroke zu wechseln. Der Ausdruck unserer Gefühle, das kreative nach Draußen in die Welt gehen, das Zugehen auf andere Menschen findet in permanentem Wechsel statt mit einer Bewegung nach innen, einer Kontaktaufnahme mit unserem Kern, unserer Stille, unserer Mitte. Will Davis nennt diesen permanenten, ungehinderten, frei fließenden Wechsel von Exstroke und Instroke „Pulsation“. Neurotische Blockierungen in unserer Charakterstruktur behindern oftmals diesen freien Wechsel von Einwärts- und Auswärtsbewegung. So kann sich z.B. nur ein Kind, welches sich vollständig in Sicherheit fühlt, ungehindert und vollständig nach innen wenden. Und, wie bei einem Pendel, kann nur nach einer ungehinderten und vollständigen Einwärtsbewegung eine authentische, kraftvolle, energiegeladene Auswärtsbewegung folgen. In der funktionalen Analyse versuchen wir, Blockierungen dieser Pulsation zu lösen. Damit kann sich unser Charakter wieder neu organisieren und heilen.

Als therapeutische Technik, um dem Klienten seinen Weg hin zu seinem Endoself erfahrbar zu machen, nutzt Will Davis die von ihm entwickelte „Points and Positions“ – Technik. Als versierter Kenner der neueren Faszienforschung sieht Davis unser Bindgewebe, allem voran die unseren ganzen Körper durchziehenden Faszien, als das „Organ“ an, in dem kindliche Konflikte, Traumata und unbewusste schmerzliche Gefühle gespeichert sind. Gleichzeitig scheint das Bindegewebe aber auch derjenige Ort in uns zu sein, an dem ein unzerstörbares universelles Wissen um Gesundheit, Energie und Liebe gespeichert ist, das Endoself. Durch achtsamen Druck auf wichtige Faszienpunkte („Points“) und durch das Dehnen oder Komprimieren von wichtigen Faszien („Positions“) können dem Klienten entweder dort gespeicherte Konflikte bewusst werden oder er kann begleitet werden in eine tiefe Stille und Entspannung, hin zu seinem Endoself. In der Folge kann von diesem heilen Ort aus Transformation geschehen auch in Themen, die im therapeutischen Gespräch nie detailliert durchgearbeitet worden waren.

Die „funktionale Analyse“ ist somit eine oftmals stille, einwärts gekehrte, sehr friedliche und positive Arbeit, die sich mehr auf das bereits Gesunde, Heile in uns fokussiert als auf unsere Probleme und Traumata. Sie eignet sich deshalb in besonderer Weise auch für Menschen, deren Persönlichkeitsentwicklung früh in der Kindheit und somit besonders schwerwiegend gestört wurde. Diese Klienten hatten in der klassischen körperorientierten Psychotherapie oft Angst, sich auf das heftige Ausleben von negativ besetzten Gefühlen einzulassen.

Da die Methode einen substantiellen Schritt unternimmt in Richtung spirituelles Denken scheint sie mir auch besonders attraktiv zu sein für Menschen, die Spiritualität bereits als Teil ihrer Lebensauffassung begreifen.

Und die Methode kann auch attraktiv sein für Menschen, die bisher eine tiefgreifende Psychotherapie gescheut haben, weil sie nicht das Bedürfnis hatten, sich freiwillig in eine vorwiegend düstere, konflikthafte, von negativen Gefühlen geprägte Welt der Selbsterfahrung zu begeben.

Viele junge Menschen empfinden nicht mehr die in vorherigen Jahrzehnten gelebte strikte Trennung von Politik, Selbsterfahrung und Spiritualität (Wilhelm Reich, der geistige Vater der körperorientierten Psychotherapieverfahren, hat selbst über diese Trennlinien hinweg gedacht und geforscht). Sie wünschen sich Heilung im Gesamten, sind für alle Welten offen. Deshalb kann die funktionale Analyse besonders auch für junge Menschen interessant sein, die spirituelles Denken, Selbsterfahrung und politisches Engagement verbinden wollen.

In den 60ern und 70ern waren viele junge Menschen äußerst konfliktgeladen. Sie hatten Väter, die aus dem Krieg als emotionale Wracks zurückgekehrt waren, und sie hatten Mütter, die ihre Rolle als selbstbestimmte und gleichberechtigte Frauen noch nicht gefunden hatten. Sie hatten Eltern, die aufgrund der äußeren Umstände wenig Chancen hatten, tiefergehend ihre Rolle in der Gesellschaft und ihren seelischen Zustand zu reflektieren. Deshalb war eine körperorientierte Psychotherapie erfolgreich, die einen starken Fokus auf das ausdrucksstarke Ausleben von Konflikten, vor allem mit den Eltern, legte. Papa oder Mama symbolisch mit dem Tennisschläger ermorden war das Mittel der Wahl!

Heute sehen wir zunehmend junge Menschen, die sich für Psychologie und Psychotherapie interessieren, denen es aber mit ihren Eltern gut ging und gut geht. Die gar nicht das Bedürfnis verspüren, sich in dem Maße von ihren Eltern abzugrenzen, wie das für die jungen Menschen in den 60ern und 70ern notwendig war. Wir sehen heute junge Menschen, die eine emotional funktionierende Beziehung zu ihren Eltern hatten und die eine psychische Gesundheit zeigen, die in der vorigen Generation nur selten zu finden war. Für diese junge Generation kann eine Psychotherapieform attraktiv sein, die nicht substantiell den Konflikt, das Drama und das Trauma benötigt, um als Therapieform zu funktionieren. Eine Therapieform, die das Gesunde, die Liebe in uns und eine tiefe Entspannung nutzen kann, um das Wachstum der Persönlichkeit zu unterstützen.

(Aus einem alten Bluessong von Blind Willie Johnson)